LGBTIQ*-Feindlichkeit

Das Projekt „Que(e)r durch Sachsen. Mobil im ländlichen Raum“ im Gespräch

16.08.2023

Mitte Juli 2023 sitzen Manuela Tillmanns, Vera Ohlendorf und Lilli Hampel im Hinterhof der Demmeringstraße 32 in Leipzig zu einem Interview zusammen. Es geht um das Beratungs- und Vernetzungsprojekt „Que(e)r durch Sachsen. Mobil im ländlichen Raum“, welches Vera und Manni im Rahmen des RosaLinde Leipzig e.V. realisieren. Im Gespräch mit Lilli von chronik.LE geht es vor allem um ihren Arbeitsalltag im Landkreis Nordsachsen und um die Problematiken, auf die sie dabei gezwungenermaßen stoßen. Es ist schwül, an den Nachbartischen sitzen arbeitende oder sich unterhaltende Kolleg*innen von Vera und Manni und wenn die Straßenbahn über den Lindenauer Markt fährt, müssen sie lauter sprechen.


Lilli (chronik.LE): Was sind die Aufgaben und Ziele eures Projektes?

Manni:
Das Projekt heißt „Que(e)r durch Sachsen. Mobil im ländlichen Raum“ und ist angegliedert an den RosaLinde Leipzig e.V. Das Besondere an unserem Projekt ist, dass wir nicht in Leipzig arbeiten, sondern in den Landkreisen Leipzig, Nord- und Mittelsachsen. Und wir haben eine Zweiteilung im Projekt: Ich bin zuständig für die psychosoziale Beratung von lesbischen, schwulen, bisexuellen, asexuellen, aromantischen, trans-, intergeschlechtlichen, nichtbinären und queeren Personen (LSBTIANQ*) zu den Themen sexuelle Orientierung, Geschlechtsidentitäten und queere Lebensrealitäten. Oft kommen auch An- und Zugehörige, wie beispielsweise Partner*innen oder Elternteile, aber auch Fachkräfte wie Schulsozialarbeiter*innen, mit Fragen zu uns.

Somit ist eines unserer Ziele die Beratung und Unterstützung von queeren Personen, z. B. beim Zugang zu einem queerfreundlicherem Gesundheitssystem, durch Unterstützung und Begleitung in einem Coming-Out- oder Transitionsprozess.

Das Besondere ist, dass wir eben in die Landkreise rausfahren. Wir stellen somit eine Struktur, die im ländlichen oder kleinstädtischen Raum bisher noch nicht existent ist und ermöglichen somit Menschen einen Zugang zu Beratung zu den genannten Themen.

Vera: Das grundlegende Ziel ist, das Leben von queeren Menschen in den Landkreisen leichter zu machen. Und dafür ist die Ermöglichung von psychosozialer Beratung ein ganz wesentlicher Punkt, aber sie reicht speziell in den Landkreisen nicht aus, weil im Grunde genommen alle Personen mit einem Beratungsanliegen auch von Einsamkeit, Isolation, fehlendem Anschluss, Unsichtbarkeit und/oder Diskriminierungserfahrungen betroffen sind. Auch können wir im Gegensatz zu unseren Leipziger Kolleg*innen, die in der Stadt die Leipziger*innen beraten, nicht an verschiedene queersensible Gruppenangebote, Freizeiteinrichtungen oder überhaupt kulturelle Angebote verweisen. Das gibt es alles nicht in den Landkreisen oder es entsteht gerade lokal begrenzt in zarten, kleinteiligen Anfängen.

Deswegen haben wir den zweiten Teil des Projekts, nämlich die strukturellere Arbeit. Das bedeutet, dass wir an Institutionen, Fachkräfte und soziale Einrichtungen herantreten und diese befähigen, sich für queere Themen zu öffnen, überhaupt queersensibel zu werden und queere Themen (als auch für sich relevant) wahrzunehmen. Wir gehen dafür in Kontakt mit Kommunen oder Verwaltungen, organisieren, immer in Kooperation mit Institutionen vor Ort, öffentliche oder interne Veranstaltungsformate, unterstützen zum Beispiel auch kleine CSDs [Christopher Street Days] und versuchen so, die Themen zu setzen.

Wichtig ist es für uns auch, dass unser Angebot der psychosozialen Beratung in den Landkreisen bekannt ist und es Multiplikator*innen gibt, die es verbreiten. Auch Verweisberatungen sind wichtig, das bedeutet, dass soziale Einrichtungen und Beratungsstellen auch von unserem Angebot wissen und dann gegebenenfalls Klient*innen zu uns verweisen können.

Manni: Denn ohne Sensibilisierung funktioniert keine Beratung.


Lilli: An wen richtet sich euer Angebot?

Manni:
Unser Projekt richtet sich an Lesben, Schwule, Bisexuelle, asexuelle oder aromantische, trans- und intergeschlechtliche, nichtbinäre und queere Menschen (LSBTIANQ*) in den Landkreisen Leipzig, Nord- und Mittelsachsen und hat zum Ziel, Menschen bei individuellen Problemlagen zu unterstützen und nach Möglichkeit an Strukturen ihres Lebens- und Sozialraumes vor Ort anzubinden. Wir bieten die psychosoziale Beratung aber auch Eltern sowie An- und Zugehörigen an. Unser Beratungsangebot ist kostenlos und auf Wunsch anonym. Man kann sich mit einem Beratungsanliegen per Telefon oder E-Mail an uns wenden und wir kümmern uns dann um einen wohnortnahen Beratungsraum.

Vera: Wir unterstützen zusätzlich Beratungsstellen, soziale Einrichtungen, Bildungs-, Kultur-, Sport- und Freizeiteinrichtungen, Kommunen, Fachkräfte der Verwaltung und Multiplikator*innen in den Landkreisen, sich im Themenfeld sexuelle und geschlechtliche Vielfalt fortzubilden und ihre Angebote für LSBTIANQ* zu öffnen.

Unsere Kooperationsformate dafür reichen von Fach- und Fallberatungen innerhalb der Themen über Film- und Themenabende bis zu Sensibilisierungsformaten rund um die Themen sexueller und geschlechtlicher Vielfalt, Lebensrealitäten von LSBTIANQ* aller Altersgruppen und Regenbogenfamilien.


Lilli: Auf welche Probleme stoßt ihr innerhalb eurer Arbeit im Landkreis Nordsachsen?

Vera:
Wenn wir Veranstaltungen machen, versuchen wir immer auch lokale Politik dazu einzuladen. Meist sind wir damit nur bedingt erfolgreich. Für uns sind auch eher Behörden eine wichtige Zielgruppe, aber das ist auch mehr als schwierig.

Manni: Und ansonsten sind es Orte, an die Menschen im sozialen und kulturellen Leben hingehen, um auch andere zu treffen, die für unsere Arbeit essentiell sind.

Vera: Das macht die Arbeit speziell im Landkreis Nordsachsen noch einmal schwerer, dass dieser besonders schwach hinsichtlich sozialer Strukturen ist. Dort fehlen soziokulturelle Einrichtungen oder solche der politischen Bildung, wie das Netzwerk für Demokratische Kultur (NDK) in Wurzen, der Treibhaus e.V. in Döbeln oder Between the Lines in Grimma. Solche Orte gibt es in Nordsachsen nicht und das ist auch stark spürbar. Die Auseinandersetzungskultur mit Rechtsextremen oder überhaupt die demokratisch politische Arbeit fehlt oft vor Ort. Das macht es für uns schwerer, an diesen Orten anzudocken.

Manni: Ein großes Thema ist auch die Verstetigung von Dingen. Zum Beispiel war es möglich, in den Räumlichkeiten eines Trägers in Oschatz eine Beratung durchzuführen, aber es funktioniert leider oft nicht darüber hinaus, queere Themen zu platzieren, sodass die lokalen Institutionen ein eigenes Interesse daran haben, dass Veranstaltungen wiederholt stattfinden und durch sie selbst beworben werden. Es mangelt an dem Eigeninteresse, queere Angebote zu schaffen oder für queere Zielgruppen ansprechbar zu sein. Das ist aber von Ort zu Ort unterschiedlich, manchmal ist es schwer und manchmal einfacher. Man telefoniert den Leuten schon viel hinterher.

Vera: Deswegen suchen wir auch Gelegenheiten, auf Multiplikator*innen zu treffen. Die lokalen Partnerschaften für Demokratie (PfD), die es in jedem Landkreis gibt, sind z. B. ganz wichtige Multiplikator*innen. Über ihre Demokratiekonferenzen oder den Begleitausschuss, in denen wir uns vorstellen können, führt dann oft ein Kontakt zum nächsten. Wir gründen auch selbst Arbeitskreise oder beteiligen uns an anderen. In Nordsachsen gibt es zum Beispiel den Arbeitskreis „Geschlechterreflektierendes Arbeiten“, initiiert durch die lokale PfD und dem LAG Mädchen* und junge Frauen* in Sachsen e.V. im vergangenen Jahr. Darüber bekommen wir auch Kontakte zu Fachkräften aus der Kinder- und Jugendhilfe, Schulsozialarbeit usw. und auch über das Schulaufklärungsprojekt der RosaLinde, welches auch „Regenbogen-AGs“ anbietet, entsteht langsam und kleinteilig eine höhere Vernetzung in den Landkreisen.

Für die Arbeit in den drei Landkreisen sind zwei Stellen eigentlich zu wenig. Wir müssten für die Kontaktarbeit viel mehr vor Ort sein.

Manni: Wir haben oft auch nur Kontakt zu engagierten Einzelpersonen, es hat also nicht immer eine ganze Institution Interesse daran, mit uns zu kooperieren. Das macht es insofern schwierig, weil dadurch oft ein häufiger Wechsel an zuständigen Ansprechpersonen und Kooperationspartner*innen entsteht, weil die Fluktuation hoch ist. Nicht selten kommt es vor, dass diese engagierten Einzelpersonen dann die Stelle wechseln und wir dann wieder von vorne mit der Kontaktaufbauarbeit beginnen müssen. Und wenn wir dann Pech haben, hat die Nachfolger*in auch kein entsprechendes Interesse mehr an queeren Themen. Und weil wir zu zweit für einen so großen Bereich zuständig sind, ist es ein bisschen so, als wenn man einmal rundrum gefahren ist und die Kontakte abgegrast hat, dass man dann eigentlich sofort wieder von vorne anfangen muss, um auch eine gewisse Kontinuität hinzukriegen. Und das ist manchmal ziemlich zermürbend, vor allem weil wir viel Basisarbeit leisten müssen. Man kann nicht davon ausgehen, dass sich Menschen schon mit den Themen beschäftigt haben, sondern muss oft ganz von vorne anfangen.

Vera: Ein Problem in Nordsachsen ist auch das fehlende Monitoring lokaler rechter Bewegungen und Kräfte. Durch das Fehlen von Zentren der politisch-kulturellen Bildung existiert eine solche analysierende, politisch aktive Struktur oft nicht. Das birgt weitere Risiken und Unsicherheiten für uns.

Manni: Wir kriegen zunehmend Probleme mit rechter Organisierung vor Ort, was unsere Arbeit auch maßgeblich beeinträchtigt. Einerseits wollen wir queere Themen transparenter machen und als Querschnittsthemen verankern und sowohl queere Menschen in den Landkreisen sichtbarer machen als auch mehr Angebote für sie schaffen, andererseits kriegen es die Nazis eben auch mit, wenn sich Strukturen für queere Themen öffnen. Das mussten wir auch schon erleben, zum Beispiel als vor zwei Jahren der CSD in Taucha angegriffen wurde und abgebrochen werden musste [1]. Damals hat die Polizei den Angriff bagatellisiert, die CSD-Demonstration nicht geschützt und das Gefahrenpotential durch die Rechten nicht ernst genommen. Dass die Rechten durch unsere Bewerbung queerer Themen und Veranstaltungen auch darauf aufmerksam werden, ist ein blinder Fleck von Seiten der Behörden.

Wir gucken immer vor Ort nach den individuellen Gegebenheiten und organisieren unterstützend und nach den Wünschen der dort lebenden Personen Schutz durch Security, denn sie müssen auch nach der Veranstaltung noch dort leben können, während wir wieder zurück nach Leipzig fahren. Dabei stellt sich die Frage: Wie kann man die Personen schützen, die wir einerseits motivieren, teilzunehmen, sich zu vernetzen und zu organisieren? Das ist ein Thema, wovon wir denken, dass es in der nächsten Zeit zunehmend problematisch wird. Wir brauchen einfach Strategien, wie wir damit umgehen. Dafür sind wir auch schon in Kontakt gewesen mit chronik.LE und haben uns auch vom Kulturbüro Sachsen beraten lassen, um herauszufinden, was die rechten Strukturen im ländlichen Raum überhaupt sagen und womit wir uns auseinandersetzen müssen, um uns und unsere Klient*innen zu schützen. Uns ist bei der Überlegung aufgefallen, dass Queerfeindlichkeit explizit oft gar nicht als solche benannt wird, sondern im wissenschaftlichen oder schriftlichen Diskurs oft unter den Begriff des Antifeminismus fällt. Das ist auch bei der Beantragung von Fördergeldern oder Ähnlichem ein Problem. Wir glauben, dass es eine eindeutige Benennung dessen braucht und der Begriff des Antifeminismus nochmal differenziert werden muss. Es muss konkret danach geschaut werden, was Queerfeindlichkeit genau bedeutet, wie sie sich äußert und welche Strategien es gegen sie gibt, um irgendwann Gelder für präventive Projekte gegen Queerfeindlichkeit bekommen zu können.

Vera: Wir hatten bis jetzt dieses Jahr zwei größere Veranstaltungen, das war einmal der IDAHIT* [Internationaler Tag gegen Homo-, Bi-, Inter*- und Trans*feindlichkeit] am 17. Mai 2023 in Wurzen[2], den wir seit einigen Jahren mitveranstalten, und einmal der CSD in Torgau am 17. Juni 2023. Und bei diesen beiden Veranstaltungen in diesem Jahr waren zum ersten Mal überhaupt keine Nazis vor Ort. Normalerweise saßen sie in Wurzen auf dem Marktplatz in den umliegenden Restaurants und guckten beziehungsweise filmten uns ab oder waren in Nebenstraßen präsent. Dieses Jahr hat das alles nicht stattgefunden, mit dem Ergebnis, dass dann eine Woche später die Regenbogenfahne öffentlich verbrannt und der Fahnenmast vor dem Stadthaus zerstört wurde.[3] Fotos davon wurden ins Internet gestellt. Beim CSD in Torgau war es ähnlich. Dieser hat zum zweiten Mal stattgefunden. Im letzten Jahr gab es Übergriffe und rechte Präsenz, dieses Jahr nicht. Es kamen zwar zwei stadtbekannte Nazis vorbei, aber sie wurden von der Polizei weggeschickt und es ist nichts weiter passiert. Aber dann, eine Woche später, versuchte die AfD durch einen Trick eine trans- und queerfeindliche Vortragsveranstaltung im Rathaus anzumelden. Zum Glück haben das engagierte Menschen aus Torgau erfolgreich verhindern können.

Also wir sehen dort einen kleinen Strategiewechsel der rechten Akteur*innen, den wir noch eine Weile beobachten müssen. Mit Blick auf die anstehende Landtagswahl nehmen wir auch wahr, dass sich sachsen- und bundesweite queerfeindliche Tendenzen, die auch in der übergeordneten Politik vertreten sind, beispielsweise in der Auseinandersetzung mit dem Selbstbestimmungsgesetz[4], in den Landkreisen auch nochmal anders niederschlagen, wo sowieso eine demokratische Beteiligung oder überhaupt queere Sichtbarkeit wenig gegeben ist und rechte Kräfte nochmal anders agieren als in der Stadt. Wir stellen in letzter Zeit verstärkt fest, dass sich Nazis vor Ort im ländlichen Raum Sachsens explizit mit queeren Themen beschäftigen. Das ist auch neu und hat sich erst in den letzten zwei Jahren so entwickelt. Vorher konnten sie mit den queeren Themen eigentlich nichts anfangen, außer dass sie irgendwie dagegen waren. Aber zuletzt gab es extrem queerfeindliche Sticker- und Plakatkampagnen, Demonstrationen mit extrem queerfeindlichen Titeln und sogar einen Buttersäureangriff auf den CSD in Döbeln. Zudem verfolgt die AfD aktuell eine sachsenweite Kampagne mit regelmäßigen kleinen Anfragen im Landtag zu verschiedenen queeren Themen, bei denen insbesondere queere Bildung und der Schulkontext ins Visier genommen wird. Ich glaube, da kommt auch nächstes Jahr noch so einiges auf uns zu.

Das alles hat dann natürlich auch Auswirkungen auf vermeintlich demokratische Strukturen. Zum Beispiel in Oschatz haben wir die Einstellung gespürt, dass man sich aufgrund einer lokal starken AfD, nicht mit den Rechten anlegen will und nichts tun möchte, das nach außen irgendwie queer-akzeptierend wirken könnte. Da fehlt es dann an einer gewissen Haltung.

Durch das Aufstacheln und die stärkere Verbreitung von queerfeindlichen Scheinargumenten und Unwahrheiten nimmt die Gewalt gegen queere Personen aktuell zu. Es ist natürlich auch eine Art bürgerliche Strategie, nicht mehr so martialisch aufzutreten, sondern mit vermeintlich objektiven Vorträgen zu arbeiten. Trotzdem gibt es leider beide Formen der Queerfeindlichkeit, die scheinbar bürgerliche Form mit Vorträgen sowie die verbale und körperliche Gewalt.

Im Landkreis ist es immer gefährlich, öffentliche Veranstaltungen zu machen. Wir brauchen immer Polizeischutz. Dabei ist die Zusammenarbeit mit den örtlichen Behörden ziemlich unterschiedlich. Vor allem am Anfang ist es sehr schwer. Nur, wenn man öfter Veranstaltungen am selben Ort macht, tritt dort von Seiten der Behörden eine Art Lerneffekt ein. Die Sensibilisierung der Polizei ist meist eine anstrengende Arbeit, die viel Zeit und Erklärungsarbeit braucht. Doch im Verlauf der Jahre hat sich die Zusammenarbeit verbessert.

Manni: Ich habe trotzdem auch den Eindruck, dass sehr oft eine Argumentation kommt, die meint, dass man, wenn man mit der Regenbogenfahne auf die Straße geht, selbst Schuld an rechten Anfeindungen wäre, denn es sei die Bekanntmachung einer politischen Meinung, mit der man provozieren würde. Das sehen wir anders. Queersein ist keine politische Entscheidung, sondern ein Menschenrecht, das geschützt werden muss. Und da zeigt sich für mich auch ein Unterschied zu den Verhältnissen in der Stadt, denn dort gibt es nochmal andere Diskurse und solche Äußerungen würden skandalisiert werden.

Vera: Vereinzelt hissen Bürgermeister*innen durchaus die Regenbogenfahne, z. B. in Schkeuditz, Taucha und Wurzen. Aber es gibt trotzdem keine Kommune in den Landkreisen, von der wir behaupten könnten, dass sie von sich aus ein Eigeninteresse an queeren Themen hat und diese setzt. Man möchte sich nicht angreifbar machen. Und auch durch menschenverachtende Diskurse, die ihren Ursprung gar nicht unbedingt in den Landkreisen haben, sondern allgemein gesellschaftspolitisch immer sagbarer werden, entwickelt es sich immer mehr dahin, zu sagen, dass Queersein eine politische Meinung sei, zu der man sich als Kommune neutral verhalten möchte. Dazu kommt außerdem, dass die Verwaltungen in den Landkreisen viel personalschwächer arbeiten als in den Städten. Also fehlen auch bei Gleichstellungsbeauftragten oft die Kapazitäten, sich mit queeren Themen auseinanderzusetzen und solche lokalen Auseinandersetzungen überhaupt durchzustehen.


Lilli: Welche positiven Entwicklungen seht ihr in der Zivilgesellschaft Nordsachsens?

Manni:
Wir bemerken, dass unsere Strategie nach sieben Jahren auch aufgeht und die Beratungsanfragen stetig steigen, auch wenn wir manchmal gar nicht genau eruieren können, woher die Leute vom Projekt erfahren haben. Auch verstetigen sich Orte, mit denen wir schon sehr lange sehr gut kooperieren, bei denen wir jetzt tatsächlich schon unsere aktive Mitgestaltung zurücknehmen können, weil es von allein läuft. Das sind eigentlich Dinge, die gut laufen. Und außerdem wird aktuell queeren Themen gesellschaftlich mit einer größeren Offenheit gegenübergetreten, als es vielleicht noch vor sieben Jahren getan wurde.

Vera: Das würde ich auch sagen. Und gerade in Nordsachsen hat sich nach den ersten veranstalteten CSDs viel bewegt und es ist vieles entstanden. Vor allem der CSD in Torgau im letzten Jahr scheint wie eine Art Weckruf gewesen zu sein, wodurch die Menschen die Relevanz des Themas verstanden haben. Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe gründeten einen Arbeitskreis, an Torgauer Schulen haben sich relativ schnell Regenbogen-AGs[5] gegründet und es gibt jetzt das queerfeministische Kollektiv „lips and bats“[6], das auch eigene queerfeministische Themen setzt. Es gibt auf jeden Fall viele engagierte Leute, nicht nur in Torgau, sondern auch in Schkeuditz oder Taucha, wo wir auch mit Jugendclubs, der Solidarische Alternative für Taucha e.V. (SAfT), Schulsozialarbeiter*innen und weiteren in Kontakt sind.

Es dauert zwar lange, aber es passiert auch etwas. Und im Gegensatz zu 2019 oder davor kennen wir jetzt auch viel mehr queere Personen, die auch außerhalb von Beratungen mit uns in Kontakt sind, weil sie selbst Veranstaltungen machen, zu Veranstaltungen kommen oder in Gruppen aktiv sind. Das gab es am Anfang meiner Arbeit im Projekt eigentlich gar nicht. Wir haben damals immer gesagt, dass wir eigentlich erstmal Veranstaltungen für die Mehrheitsgesellschaft machen und es noch lange dauern wird, bis wir dann queere Personen wirklich sehen. Und das scheint jetzt doch an manchen Stellen schneller zu gehen, als wir das befürchtet haben.


Fußnoten

[1] Vgl. Chronik-Meldung vom 22.08.2021: CSD in Taucha muss aufgrund aggresiver Neonazis abgesagt werden

[2] Einige Redebeiträge der Veranstaltung finden sich auf der Webseite queeres-sachsen.de

[3] Vgl. Chronik-Meldung vom 20.05.2023: Verbrennen einer Regenbogenflagge in Wurzen

[4] Vgl. beispielsweise taz vom 04.07.2023: Angebliche Sorgen. Kritik am Selbstbestimmungsgesetz

[5] Weitere Informationen auf der Webseite der Rosalinde Leipzig e.V.

[6] Vgl. LVZ vom 12.07.2023: „Die Realisation kam erst später“ – Junge Frauen aus Torgau sprechen über sexuelle Übergriffe

Zuletzt aktualisiert am 16.08.2023